Dem Markendruck entgehen
Die angesagten Markenschuhe müssen her und das neuste Handy, sonst gehört man nicht dazu. Kinder und Jugendliche eifern ihrem Umfeld nach. Sie knüpfen die Zuneigung ihrer Freunde an namhafte und teure Marken. Was löst Markendruck aus? Wie können Eltern als Vorbilder dem «Markenhype» entgegenwirken? Das erklärt Ihnen Urs Kiener, Kinder- und Jugendpsychologe bei Pro Juventute.
Herr Kiener, warum bedeuten uns Marken so viel?
Bei Labels und Marken geht es um viel mehr, als nur um Besitz. Selbstdarstellung und Status spielen eine grosse Rolle. Menschen sehnen sich nach Zugehörigkeit und letztendlich auch nach Liebe.
Müssen Konsumgüter zwingend ein Label haben?
Sicher nicht. In unserer Gesellschaft müssen wir zwar bestimmte Dinge besitzen. Auf Kleider können wir nicht verzichten, auch ein Smartphone ist für die meisten von uns unentbehrlich. Wir bekommen diese Produkte – zwar ohne Label – ebenso ganz günstig. Dennoch haben viele Menschen das Bedürfnis, ein Markenprodukt zu kaufen, das viel Geld kostet.
Woher kommt dieses Bedürfnis?
Unsere Bedürfnisse können wir häufig auf die Kindheit zurückführen und was wir damals erfahren haben. Karl Valentin sagte: «Kinder kann man nicht erziehen. Die schauen uns eh alles ab.» Dieses Zitat trifft den Nagel auf den Kopf. Eltern sind Vorbilder. Ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Ein Kind imitiert seine Eltern, schaut sich bestimmte Verhaltensweisen ab und findet alles, was Mami und Papi tun, einfach nur toll. So kann auch der Hang zum Markenprodukt imitiert werden, oder aber auch die Sucht, im Ausverkauf den Schnäppchen nachzujagen. Ein Erwachsener muss sich deshalb bewusst sein, dass er mit seinem Verhalten Einfluss auf seine Kinder hat. Man sollte sich also schon recht früh überlegen, was man seinem Kind vorleben möchte.
Mein Tipp: Leben Sie Ihrem Kind einen Lebensstil vor, den er oder sie sich später auch leisten kann.
Das Markenverhalten der Eltern beeinflusst also schon kleine Kinder?
Kleinkinder hinterfragen sich nicht selbst, sie nörgeln nicht an sich herum, sie zweifeln nicht an ihrem Selbstwert. Auf Markenprodukte zur Selbstdarstellung oder als Ausdruck von Zugehörigkeit legen sie keinen Wert. Ein fünfjähriges Mädchen würde nie nach einer Marke verlangen. Es gibt aber tatsächlich einen Markt, zum Beispiel Modelabels, die auf Kleinkinder fokussieren. Die Zielgruppe ist hier eher das markenbewusste Elternteil und nicht das Kleinkind.
Welche Rolle spielt für Kinder die Selbstdarstellung und der Status?
Der Vergleich mit Freunden wird ab einem Alter von 6 oder 7 Jahren sehr wichtig. Die beste Freundin hat plötzlich neue, teure Schuhe. Und jetzt will der eigene Nachwuchs das auch – und zwar subito! Da reicht kein günstiges oder vergleichbares Produkt. Es muss genau das sein, das die Freundin oder der Freund auch hat. Das Konzept von Geld und Besitz nimmt Form an. Aber nicht das Label steht im Vordergrund. Es ist die Identifikation mit der besten Freundin oder dem besten Freund. Die Zuneigung und Liebe zu ihr oder ihm steht vermeintlich auf dem Spiel. Etwas Wertvolles, das das Kind nicht gefährden möchte. Deshalb setzt es alle Strategien ein, die ihm zur Verfügung stehen, um das auch zu bekommen. Zuerst probiert es vielleicht eine Charme-Offensive, danach trotzt und quengelt es. Es geht teilweise sogar soweit, dass Kinder damit drohen wegzulaufen, weil sie sich unfair behandelt fühlen. Dies ist eine grosse Herausforderung für die Eltern.
Wie können Eltern darauf reagieren?
Wie erklärt man seinem Kind, dass es den besten Freund nicht verlieren wird, nur wenn die Schuhe nicht das richtige Label haben? Eltern können hier ein bewährtes psychologisches Konzept einsetzen: «Bedürfnisaufschub». Auf gut Deutsch: warten können. Es hilft, mit dem Kind über Wünsche im Allgemeinen zu sprechen. Reden Sie mit Ihren Kindern auch über Ihre eigene, persönliche Wunschliste und was Sie dafür tun, um sich die Wünsche zu erfüllen. Machen Sie mit Ihren Kindern beispielsweise einen Plan, wie sie auf ihre Wünsche hinsparen können. Etwa, indem sie Geldgeschenke oder einen Teil des Taschengeldes speziell für diesen Wunsch auf die Seite legen, statt sich damit kurzfristige Gelüste, wie Süssigkeiten, zu befriedigen.
Bei Teenagern verändert sich das Konsumverhalten und der Markendruck scheint oft besonders hoch. Warum ist das so?
Die Pubertät ist eine emotionale Achterbahnfahrt. Jugendliche stellen sich oft infrage. Ihr Selbstwertgefühl ist stark von äusseren Faktoren abhängig. Teenagern ist es sehr wichtig, zu einer Gruppe von Gleichaltrigen dazu zu gehören. Oft definieren äussere Zeichen, wie Markenkleider oder exklusive Turnschuhe, wer Teil dieser Gruppe ist oder ausgeschlossen wird. Auf der Suche nach Anerkennung und Bestätigung sind Teenager sehr zugänglich für die Verführung von aussen. Also von ihren Freunden, Schulkollegen und heute zunehmend auch von Social Media.
Auf Social Media sieht werben Influencer mit den teuersten Marken. Lassen sich Teenager davon beeinflussen?
Leider ja. Die Social-Media-Influencer haben eine besondere Rolle in dieser geschönten Welt. Sie sind so etwas wie lebende Online-Verkaufskataloge, die für Geld auf ihren Social-Media-Kanälen Werbung machen. Sie stellen oft ganz bewusst einen Zusammenhang zwischen ihrem vermeintlich coolen und glücklichen Leben und bestimmten Labels her. Wenn man selbst nicht in einer guten psychischen Konstitution ist, ist die Verlockung besonders gross, sich dieses Glück zu kaufen – etwa durch die beworbenen Produkte auf Social Media.
Hat das Internet das Marken- und Konsumverhalten verändert?
Mit dem heutigen Angebot an Konsum, Freizeitgestaltung und Onlineaktivitäten stehen Kinder und Jugendliche vor Herausforderungen, die keine Generation zuvor erlebt hat. Eine weitere grosse Versuchung ist das Online-Shopping. Damit können sie sich praktisch rund um die Uhr alle Wünsche erfüllen, ohne gleich bezahlen zu müssen. Online-Shopping hat sich bei den Jugendlichen innerhalb weniger Jahre zur grössten Schuldenfalle überhaupt entwickelt. In der Schweiz sind 40 % der 18-Jährigen verschuldet!
Steht der Markendruck in direktem Zusammenhang mit Geld?
Geld ist bei Marken natürlich wichtig. Die meisten Marken kosten viel Geld, darüber müssen die Familien offen sprechen. Eltern können die Gelderziehung schon recht früh starten. Ab dem Schulalter ist es sinnvoll, offen darüber zu sprechen. Ab ca. 12 Jahren kann man den Kindern bzw. Jugendlichen in Geldangelegenheiten auch mehr Kompetenzen und Verantwortung übertragen.
Wie können die Eltern das am besten umsetzen?
Bei Pro Juventute arbeiten wir mit dem Modell«Jugendlohn». Das Prinzip des Jugendlohns ist einfach: Die Jugendlichen erhalten einen fixen monatlichen Betrag von ihren Eltern, mit dem sie selbständig bestimmte Lebenskosten verwalten, wie zum Beispiel Kleider, Coiffeur, ihr Velo, öffentliche Verkehrsmittel, Handy, Sport und Taschengeld. So lernen sie, selbständig einen Monat im Voraus zu planen. Wir haben 1'000 Eltern und Kinder über ihre Erfahrungen damit befragt. Die Eltern sagten, dass Marken für ihre Kinder viel weniger wichtig geworden sind. Den Jugendlichen war schnell bewusst, was es bedeutet, wenn man sich einen Sportschuh um 300 Franken im Fachgeschäft kauft, oder ein günstigeres Modell um 50 Franken. Dafür hatten sie noch 250 Franken für etwas anderes übrig. Und was noch sehr bedeutend war: Sie waren alle unheimlich stolz. Stolz, dass ihre Eltern ihnen vertrauen, diese Aufgabe zu meistern. Und stolz, dass sie die Verantwortung übernommen haben. Das Selbstwertgefühl war plötzlich nicht mehr auf externe Faktoren angewiesen. Der Stolz hat die inneren Faktoren des Selbstwertgefühls aktiviert. Erfahrungsgemäss verlieren teure Markenprodukte an Attraktivität.
Zum Interviewpartner
Urs Kiener arbeitet seit 12 Jahren als Kinder- und Jugendpsychologe bei Pro Juventute. In dieser Zeit war er unter anderem Verantwortlicher für die Beratungsangebote sowie Bereichsleiter für Programme und Dienstleistungen.
Sie erreichen die telefonische Elternberatung von Pro Juventute unter +41 58 261 61 61 oder online unter www.projuventute.ch.