Freundschaften: in jeder Lebensphase wichtig
Freundschaftsarmbänder, Begrüssungsrituale, Spitznamen und Geheimsprachen. Beste Freunde gehen zusammen durch dick und dünn, vertrauen einander. «Freundschaften prägen unsere Identität», so Urs Kiener, Kinder- und Jugendpsychologe bei Pro Juventute. Im Interview erzählt er mehr zum Thema Freundschaften.
Herr Kiener, wie wichtig sind Freundschaften für uns Menschen?
Wir verbinden Freundschaften zumeist untrennbar mit einer glücklichen Kindheit. Die ersten Freundschaften entstehen in der Regel beim gemeinsamen Spiel. Auch wenn diese schnell wechseln können und oft nicht lange andauern, empfinden Kinder Momente mit Freunden als sehr schön. Was jedoch ganz wichtig ist: Freundschaften geben uns das Gefühl, dazu zu gehören. Sie prägen unsere Identität, unsere Persönlichkeit und unsere soziale Kompetenz – und das vom Kindesalter an.
Für Babys ist recht lange nicht klar, dass ihre Mutter eine eigenständige Person und nicht Teil des Babys ist. Sie scheint untrennbar mit dem Baby verbunden. Etwas von dieser Illusion fliesst auch in die ersten Freundschaften ein. Selbst bei uns Erwachsenen dauert es manchmal etwas, bis wir erkennen, dass unsere Freunde unabhängige Lebewesen mit eigenen Meinungen und Vorstellungen sind. Dies zu erkennen ist wichtig für eine solide Freundschaft.
Kinder definieren ihre Freunde durch das gemeinsame Spielen. Was ist, wenn jemand ausgegrenzt wird?
Kinder betonen in Freundschaften oft ihre Gemeinsamkeiten. Spezielle Begrüssungsrituale, Geheimsprachen, Spitznamen – nur die besten Freundinnen und Freunden oder die Clique kennen sie. Diese Gemeinsamkeiten definieren, wer dazu gehört. Die Kehrseite davon ist, dass andere Kinder oft deutlich und unmissverständlich ausgeschlossen werden. Sei es, dass ein Kind nicht zum Kindergeburtstag eingeladen, vom Spielen ausgegrenzt wird oder sich «gemein» gegenüber anderen Kindern verhält. Die Ausgrenzung ist ein ganz natürlicher Prozess in unserer Entwicklung. Sowohl die Kinder als auch die Eltern müssen lernen, damit umzugehen. Eltern sollten in solchen Situationen aufmerksam sein, sich aber nicht zu viel einmischen. Ausser, wenn ein Kind offensichtlich gemobbt wird.
Wie können die Eltern Mobbing erkennen?
Es gibt ganz klare Anzeichen im Verhalten eines Kindes. Das Kind verschanzt sich plötzlich immer in seinem Zimmer. Es erzählt nicht mehr von Freunden oder lädt niemanden mehr ein. Es ist ohne augenscheinlichen Grund übermüdet, hat keinen Appetit mehr oder es verletzt sich sogar selbst. Die Eltern sollten diese Verhaltensänderungen beobachten und im Zweifelsfall das Kind offen darauf ansprechen. Eltern müssen dann aktiv eingreifen, wenn es nicht mehr um eine gewöhnliche Zurückweisung im Alltag geht. In diesem Fall sollten sie zuerst mit dem Kind und danach auch mit den Lehrern oder den Eltern der anderen Kinder sprechen.
BFF – Best friends forever
Welche Faktoren spielen später die wichtigste Rolle für eine Freundschaft?
In der Pubertät kommen neue Aspekte hinzu: gemeinsame Interessen, gegenseitige Unterstützung, persönlicher Austausch und vor allem das Bedürfnis nach Loyalität und Vertrauen. Gerade für Teenies ist es ganz wichtig, dass sie sich einander anvertrauen, Geheimnisse und Gedanken miteinander teilen können. Für viele Eltern ist es eine grosse Herausforderung, wenn die Bindung zu den Kindern aufgelöst wird. Sie erleben das als Kontroll- und teilweise auch als Liebesverlust. Sie müssen akzeptieren, dass sie nicht mehr die wichtigsten Bezugspersonen sind. Ihre Kinder besprechen viele Themen nicht mehr mit ihnen, sondern mit den Freunden. In dieser Zeit lösen sich die Jugendlichen von ihrer Ursprungsfamilie und lernen, ein selbständiges und unabhängiges Leben zu führen. Es fällt Eltern vielleicht einfacher, sich damit abzufinden, wenn sie wissen, dass das eine entscheidende Vorstufe zum Erwachsenwerden und zur Entwicklung von Sozialkompetenz ist. Ein Trost: Die Eltern bleiben trotzdem Eltern und nehmen weiterhin eine Vorbildfunktion ein. Sie sollten ihren Kindern ihre Meinung wie bis anhin sagen – aber nicht mehr erwarten, dass diese sich weiterhin voll und ganz daran orientieren.
Welche Rolle spielt Social Media bei Teenager-Freundschaften?
Auf Social-Media-Kanälen sehen wir meistens geschönte Inhalte. Freunde und vor allem die Social Influencer auf Snapchat, Instagram, YouTube und Facebook posten keine unvorteilhaften Bilder mit Pickel im Gesicht. Gezeigt werden bearbeitete Bilder und die schönen Aspekte des Lebens. Kinder und Jugendliche können unter grossen Druck und Stress geraten, wenn sie sich nicht bewusst sind, dass diese Bilder oft nichts mit der realen Welt zu tun haben – und wenn sie diesen geschönten Darstellungen nacheifern. Betroffene Kinder sind dann beispielsweise unzufrieden mit dem eigenen Körper. Mädchen finden sich zu dick, Jungs zu wenig muskulös. Freundschaften im realen Leben können dies relativieren. Freunde erleben gemeinsam «echte» Probleme, tauschen sich über eine unperfekte Welt aus und genau so soll es sein. Darüber hinaus hilft es, den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, wie sie zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Eltern können auch hier das Gespräch aktiv suchen und ihren Kindern dabei helfen, ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln. Mittlerweile kann man sogar beobachten, dass sich junge Erwachsene bereits wieder von den Social-Media-Kanälen abmelden und zurückziehen. Sie erkennen, dass sie diese Art der Medien negativ beeinflusst und beenden selbständig den Druck, der davon ausgeht. Medien machen nicht sozial kompetent. Dazu braucht es die Bindung zu Freunden.
Welche Erwartungen haben Jugendliche an ihre Freunde?
Bei Mädchen ist es oft so, dass sie grosse Loyalität von ihren besten Freundinnen erwarten. Sie vertrauen sich ihre grössten Geheimnisse an und verlangen, dass diese nicht weiter erzählt werden. Mädchenfreundschaften sind oft sehr exklusiv, während die Buben ihre Freunde eher in einer Clique finden und die Freundschaften fliessend sind. Freundschaften – besonders exklusive Freundschaften – haben bei Mädchen einen anderen Wert. Deshalb gibt es auch oft Tränen, wenn es nicht so rund läuft. Jungs binden sich meistens nicht so stark an eine Person, es ist die Clique, die zählt.
Welche Rolle spielen die Eltern hinsichtlich der Freundschaften ihrer Kinder?
Das Konzept von Freundschaft wird auch von den Eltern mitgeprägt. Das Verhalten der Eltern gegenüber ihren eigenen Freunden spielt eine grosse Rolle, denn die Kinder nehmen sie als Vorbilder.
Freunde sind für Kinder ganz besondere Menschen. Sie bauen enge Beziehungen zu ihnen auf. Es ist ihnen wichtig, dass ihre Eltern die Freunde akzeptieren. Eltern unterstützen diese Beziehungen, indem sie ihr Haus für die Freunde ihrer Kinder öffnen, sie willkommen heissen und ihnen einen Platz in der Familie geben. Für Kinder und Jugendliche ist es ein Highlight, wenn der beste Freund oder die beste Freundin über Nacht bleiben darf, oder wenn man gemeinsam mit der Familie des besten Freundes in die Badi gehen kann. Kinder sollten ausreichend freie, nicht verplante Zeit für ihre Freunde haben und diese Zeit unbeobachtet verbringen können. Sie stellen ihre eigenen Regeln auf, teilen ihre Ideen … das geht ganz automatisch.
Welchen Einfluss haben die Eltern auf die Freundschaften ihrer Kinder?
Um unsere eigene Identität zu finden, benötigen wir andere Menschen. Häufig möchten Eltern den Umgang ihrer Kinder beeinflussen. Sie sollten aber nur eingreifen, wenn es sich um sehr problematische Kontakte handelt und sie bemerken, dass sich ihr Kind verändert oder zurückzieht. Sonst sollten sie sich eher zurückhalten und sich darauf verlassen, dass das Kind genau die Beziehungen eingeht, die für seine Entwicklung notwendig sind. Oft sind Kinder fasziniert von Freunden, die genau das Gegenteil von ihnen sind. Schüchterne Kinder kommen oft mit forschen Freunden gut aus. Sie lernen durch sie, wie sie sich selbst verteidigen können und werden selbstsicher.
Das Verhalten im Erwachsenenalter hängt also von unseren Freundschaften in der Kindheit ab?
Ja, zu einem Teil bestimmt. Aus den Reaktionen und Rückmeldungen von Freundinnen und Freunden lernen Kinder bereits, sich in einer Gruppe sicher zu bewegen. Sie erkennen, wenn sie aufgrund eines bestimmten Verhaltens ausgeschlossen und kritisiert werden. In Freundschaften entdecken sie sich selbst, lernen ihre Stärken und Schwächen kennen und entwickeln sich dadurch weiter.
Und bei Erwachsenen? Was macht gute Freunde aus?
Eine gesunde freundschaftliche Beziehung zeichnet sich oft dadurch aus, dass Freunde im Laufe der Zeit immer besser wissen, wofür der jeweils Andere die Verantwortung übernimmt. Sie gestehen sich den notwendigen Freiraum zu. Im Erwachsenenalter sind gemeinsame Aktivitäten der Kitt, der eine Freundschaft zusammenhält.
Haben Sie noch einen Tipp für unsere Leserinnen und Leser, wie sie Freundschaften lange aufrechterhalten können?
Wir Menschen sind hochkomplexe, dynamische Systeme. Eigentlich sind wir nicht dafür geschaffen, langfristig wahnsinnig gut miteinander auszukommen. Dazu sind wir viel zu kompliziert. Der Schlüssel, um diese Komplexität zu reduzieren, heisst Vertrauen. Gegenseitiges Vertrauen ist ein zentrales Element einer guten Freundschaft.
Zum Interviewpartner
Urs Kiener arbeitet seit 12 Jahren als Kinder- und Jugendpsychologe bei Pro Juventute. In dieser Zeit war er unter anderem Verantwortlicher für die Beratungsangebote sowie Bereichsleiter für Programme und Dienstleistungen.
Sie erreichen die telefonische Elternberatung von Pro Juventute unter +41 58 261 61 61 oder online unter www.projuventute.ch.